Mit dem Schorsch auf dem Wind der Sonne entgegen

[Quelle: Odenwälder Heimatzeitung vom 12.09.1998]

Mit dem Motordrachen bis zu 800 Meter über dem Odenwald schweben – ein außergewöhnliches Vergnügen (von Bernd Köbler)

Schauplatz ist der Flugplatz Waldhorn in Michelstadt. Ich treffe mich mit den Mitgliedern der Flugsportfreunde „Ourewäller Iwwefliejer“, um meinen ersten Flug auf einem gewichtskraftgesteuerten Ultraleichtflugzeug zu absolvieren.

Der Passagier sitzt auf dem Trike ähnlich wie auf einem Motorrad, etwa eine Kopflänge höher als der Pilot. Ich werde mit drei Gurten nach allen Seiten gesichert und bekomme einen schwarzen Helm sowie eine an Sience-Fiction-Filme erinnernde Schutzbrille verpaßt. „Das Ding brauchst du wegen des Fahrtwinds“, erklärt mir mein Pilot Hansjürgen Villhard. „Schließlich bewegen wir uns ja da oben mit etwa hundert Stundenkilometer.“ Der schwarze Helm kratzt ein wenig an den Ohren, und aus der eingebauten Gegensprechanlage meldet sich krächzend die Stimme des Flugleiters Walter Kredel vom Tower. Villhard antwortet: „Delta-Mike-Echo-Tango-Yankee – Rollhalteort Piste 08 abflugbereit.“ Walter Kredel reagiert prompt. „Die Piste ist frei, Wind aus 130 Grad mit drei Knoten.“ Unser Fluggerät setzt sich langsam in Bewegung und rollt (noch) gemächlich die Startbahn entlang.

Dann gibt Villhard Gas, und ich werde richtig in den Sitz gedrückt. Immer schneller wird die Fahrt in Richtung auf die etwa 140 Meter tiefer liegende Stadt, und mit einem Ruck heben wir ab. Der Motordrachen gewinnt rapide an Höhe, und mir wird ein wenig mulmilg in der Magengrube. Es ist schon eine gewöhnungsbedürftige Sache, bis zu 800 Meter über dem Erdboden relativ frei auf dem circa 200 Kilogramm leichten Motordrachen zu sitzen. Aber nach wenigen Minuten haben sich meine Gefühle einigermaßen geordnet, und ich kann den Ausblick über den Odenwald so richtig genießen. Es ist schon seltsam, plötzlich sein eigenes Haus aus ungefähr 600 Meter Höhe zu sehen. Seit zwei Jahren haben die „Ourewäller lwwefliejer“ auf dem Michelstädter Flugplatz eine Heimat gefunden. Das Hauptinteresse des Odenwälder Clubs liegt nach wie vor auf dem motorlosen Drachenfliegen. Um diesem Hobby nachzugehen, mußten die Flieger ursprünglich lange Anfahrtwege zu den alpinen Fluggebieten auf sich nehmen.

Seit 1991 haben sie ihre Aktivitäten durch Anschaffung einer motorbetriebenen Schleppwinde auf den Oden-wald konzentriert. Um die Fliegerei mit dem motorlosen Drachen effektiver zu gestalten, besteht in Deutschland seit einigen Jahren die Möglichkeit, den Drachen mittels eines Schlepptrikes in die Thermik zu bringen. Dies verschafft dem Drachenpiloten bessere Möglichkeiten für ausgedehnte Streckenflüge. Darum entschlossen sich die „Iwwefliejer“, ein schlepp-taugliches Ultraleichtflugzeug anzuschaffen. In bezug zu ihrer Odenwälder Heimat tauften sie das Kraftpaket auf den Namen „Schorsch“.Voraussetzung für den Drachenschlepp ist ein entsprechend zugelassenes Fluggelände. Nach langer Suche wurden die Drachenflieger bei dem seit mehr als 40 Jahren ansässigen Aero-Club Odenwald mit offenen Armen empfangen. Die „lwwefliejer“ erreichten eine Optimierung der motorlosen Flugzeiten dieser umweltfreundlichen Sportart, denn im Streckenfliegen liegt der größte Reiz des Drachenfliegens. „Das Fliegen in seiner ursprünglichsten Form – nur von den Naturkräften getragen, frei wie ein Vogel.“ Darin sind sich alle Vereinsmitglieder einig. Die Frage drängt sich auf, wie im Fall von Hansjürgen Villhard ein ehemals passionierter Motorradfahrer zu diesem außergewöhnlichen Steckenpferd findet. „Auf einer Tour durch die Alpen im Sommer 1983 faszinierten mich die bunten Segel der Drachenflieger am Himmel über Tirol. Dies war der auslösende Moment für ein Hobby, das sich seit dieser Zeit wie ein roter Faden durch mein Leben zieht.“ Villhard fand im Odenwald noch weitere Gleichgesinnte, die sich diesem luftigen Sport verschrieben haben. So beschloß der damals dreiundzwanzigjährige Finanzwirt aus Böllstein, gemeinsam mit seinen Interessenskameraden die erforderlichen Lizenzen für das Drachenfliegen zu erwerben. Aus dieser Gemeinschaft entwickelte sich eine Freundschaft unter den Fliegern, die zur Gründung des Vereins führte.

Obwohl bei dieser Sportart jeder Pilot auf sich allein gestellt ist, bedarf es am Boden einer perfekten Teamarbeit. „Durch die Erweiterung auf die Ultraleichtfliegerei bin ich unabhängiger geworden und kann ohne, Hilfe meiner Kameraden in die Lüfte steigen. Außerdem bietet sich die Möglichkeit, durch Passagierflüge auch – wie wir scherzhaft sagen – Fußgängern das Erlebnis des freien Flugs zu vermitteln. Trotz allem bleibt das motorlose Fliegen im Aufwind die größte sportliche Herausforderung für mich.“ Wie Hans-Jürgen Villhard erklärt, ist das Drachen- und Ultraleichtfliegen nur nach einer intensiven Ausbildung erlaubt. Dazu gehören die praktische Flugschulung und, umfangreicher theoretischer Unterricht. Sicherheit wird auf dem Waldhorn großgeschrieben. Das Fluggerät namens Schorsch kann auch ohne Motor auf fast jedem Gelände landen. Und trotzdem ist es mit einem zusätzlichen Rettungsschirm ausgerüstet, der im Notfall bei einer Ansprechzeit von etwa einer zentel Sekunde das gesamte Fluggerät samt Passagier und Pilot sicher zur Erde bringt.“Diese Sportart hat längst den Ruf der Verwegenheit abgelegt.“ Im wahrsten Sinne des Wortes ist die Zeit wie im Flug vergangen. Mein Pilot deutet nach unten, und ich sehe den Marbach-Stausee aus gut 500 Meter Höhe. Unser Drachen schwenkt über der Mossauer Höhe nach rechts und leitet den Landeflug ein. Um den Flugverkehr zu koordinieren, ist über Funk eine Anmeldung bei der Flugleitung im Tower erforderlich. Wieder krächzt der Funkverkehr in meinem Helm. Darauf antwortet Villhard in Fliegerchinesisch, Sekunden später setzen wir sanft auf dem Asphalt auf. Die Erde hat mich wieder. Noch lange sitze ich mit dem Piloten im gemütlichen Biergarten am Flugplatz. Schon ein Sonnenuntergang am Waldhorn ist einen Ausflug wert – nur fliegen ist schöner!